Ein Unfall kann finanzielle Folgen haben, die Jahre nachwirken. Genau hier greifen private Unfallversicherungen – aber nur, wenn Sie die Stellschrauben im Tarif richtig einstellen. Der „Invaliditätsgrad“ bestimmt, wie schwer die dauerhafte Beeinträchtigung ausfällt. Die „Progression“ legt fest, wie stark die Auszahlung ab einer bestimmten Schwere ansteigt. Wer beides versteht, kann Beiträge und Leistungen optimal austarieren und so unnötige Kosten vermeiden. In diesem Leitfaden erklären wir verständlich, wie Versicherer rechnen, zeigen reale Rechenbeispiele und geben eine klare Strategie, wie Sie Ihren Tarif sinnvoll konfigurieren.
Warum Invaliditätsgrad und Progression über Ihre Leistung entscheiden
Die meisten Beitragsunterschiede in der Unfallversicherung lassen sich auf zwei Faktoren zurückführen: die vereinbarte Invaliditätssumme (Grundsumme) und die Progression. Während die Grundsumme eine lineare Basis schafft, sorgt die Progression für die „Turbo‑Auszahlung“ bei schweren Invaliditätsgraden. Entscheidend: Sie zahlen die höheren Beiträge immer – profitieren aber besonders, wenn der Invaliditätsgrad hoch ist. Deshalb zählt die Frage: Wo liegt Ihr persönliches Risiko‑/Kosten‑Sweet‑Spot?
Was bedeutet Invaliditätsgrad konkret?
Der Invaliditätsgrad beschreibt die dauerhafte Beeinträchtigung nach einem Unfall in Prozent. Grundlage sind die sogenannte Gliedertaxe und ärztliche Gutachten. Je nach betroffenem Körperteil und Funktionsverlust ergibt sich ein Prozentsatz. Dieser ist nicht identisch mit dem Krankheitsverlauf, sondern bewertet den langfristigen Funktionsverlust. Wichtig: Der Invaliditätsgrad ist nur dann relevant, wenn innerhalb der vertraglich festgelegten Frist (meist 12–15 Monate) eine dauerhafte Beeinträchtigung festgestellt wird.
Typische Gliedertaxe‑Orientierungswerte und Bewertung
Versicherer legen in ihren Bedingungen pro Körperteil feste Prozentsätze fest, etwa Arm, Hand, Bein oder Auge. Kommt es zu Teilverlust oder Funktionsminderung, wird anteilig gerechnet. Abweichungen zwischen Anbietern sind üblich, daher lohnt der Blick ins Bedingungswerk. Bei Berufen mit hohem Hand‑/Auge‑Einsatz kann eine günstige Gliedertaxe Gold wert sein.
Progression: Der Leistungsturbo erklärt
„Progression“ bezeichnet eine überproportionale Steigerung der Leistung bei schweren Invaliditätsgraden. Ohne Progression ist die Auszahlung linear: 30 % Invalidität bedeuten 30 % der Grundsumme. Mit Progression steigt der Auszahlungsfaktor ab definierten Schwellen. Beispiele sind 225 %, 350 % oder 500 % Progression. Je höher die Progression, desto günstiger ist der Schutz bei schweren, desto magerer relativ bei leichten Invaliditäten – und desto höher meist der Beitrag. Ihre Aufgabe: das passende Verhältnis aus Grundsumme und Progressionsstufe finden.
Einordnung der gängigen Progressionsstufen
Eine niedrige Progression (z. B. 225 %) verstärkt die Leistung moderat, eine hohe Progression (350–500 %) beschleunigt ab 50–70 % Invalidität stark. Beim Feintuning gilt: Erst die Grundsumme solide wählen, dann Progression zur Absicherung des „Worst Case“ ergänzen.
Die Rechenlogik in der Praxis – von linear zu progressiv
Ohne Progression wird die Leistung simpel berechnet: Leistung = Grundsumme × Invaliditätsgrad. Beispiel: 100.000 € Grundsumme × 20 % Invalidität = 20.000 €. Mit Progression greift eine Kurve: Ab einer Schwelle (häufig 25 % oder 50 %) wird der Auszahlungsfaktor stärker. Das genaue Schema steht im Tarif – einige Anbieter nutzen Stufenmodelle, andere Kurvenformeln. Für Sie entscheidend ist das Ergebnis in Euro bei typischen Szenarien.
Beispielgrundlage für alle Musterrechnungen
Zur Vergleichbarkeit nehmen wir eine Grundsumme von 100.000 € und vergleichen drei Progressionsstufen: 225 %, 350 % und 500 %. Achtung: Die tatsächlichen Werte schwanken je nach Anbieter. Unsere Beispiele zeigen die Größenordnung und das Prinzip.
Schritt‑für‑Schritt: So leiten Sie Ihre Auszahlung ab
Zuerst bestimmen Sie den Invaliditätsgrad (ärztliches Gutachten). Dann wenden Sie das Progressionsschema des Tarifs an. Ergebnis ist die Gesamtleistung. Planerisch sollten Sie stets prüfen, ob die Auszahlung hohe Fixkosten (Umbau, Einkommenslücken, Therapien) realistisch abdeckt.
Schnellüberblick: Begriffe, die Sie kennen sollten
- Invaliditätssumme (Grundsumme): Basis, von der prozentual gerechnet wird.
- Progression: Faktor, der Leistungen bei höheren Invaliditätsgraden überproportional erhöht.
- Gliedertaxe: Bewertungsraster je Körperteil und Funktionsverlust.
- Mitwirkungsanteil / Vorschäden: Mögliche Kürzung durch Vorerkrankungen.
- Fristen: Unfallmeldung, ärztliche Feststellung, Neubemessung.
Vergleichstabelle: Wie stark die Progression die Auszahlung verändert
Die folgende Tabelle zeigt beispielhafte Auszahlungen (in Euro) für eine Grundsumme von 100.000 € bei unterschiedlichen Invaliditätsgraden. Die Progressionswerte sind typische Marktlogiken, zur Illustration vereinfacht.
| Invaliditätsgrad | Ohne Progression (linear) | Progression 225 % | Progression 350 % | Progression 500 % |
| 20 % | 20.000 | 22.000 | 22.000 | 22.000 |
| 30 % | 30.000 | 35.000 | 36.000 | 36.000 |
| 40 % | 40.000 | 48.000 | 52.000 | 55.000 |
| 50 % | 50.000 | 65.000 | 80.000 | 90.000 |
| 60 % | 60.000 | 90.000 | 125.000 | 160.000 |
| 70 % | 70.000 | 120.000 | 185.000 | 260.000 |
| 80 % | 80.000 | 160.000 | 260.000 | 380.000 |
| 90 % | 90.000 | 200.000 | 320.000 | 460.000 |
| 100 % | 100.000 | 225.000 | 350.000 | 500.000 |
Nachvollziehbar wird: Je höher der Invaliditätsgrad, desto massiver wirkt eine starke Progression. Bei leichten Beeinträchtigungen ist der Unterschied dagegen eher moderat. Daraus folgt eine klare Sparlogik: Grundsumme nicht zu klein wählen, Progression passend zu Ihrem Risiko ergänzen – statt andersherum.
Praxisfälle: Drei Profile, drei Strategien
Familie mit Eigenheim, zwei Einkommen: Hier zählt die Absicherung des Worst Case. Eine solide Grundsumme (z. B. 150.000–250.000 €) mit 350–500 % Progression kann sinnvoll sein, da Hauskredit, Umbauten und Betreuungskosten anfallen können. Die höhere Progression schützt extreme Szenarien.
Single mit guter BU‑Absicherung: Wer bereits eine starke Berufsunfähigkeitsversicherung besitzt, kann die Unfallversicherung schlanker gestalten. Eine ordentliche Grundsumme plus 225–350 % Progression reicht oft, um Einmal‑Aufwände (Reha, Hilfsmittel) abzudecken.
Selbstständige ohne BU: Hier drohen Einkommenslücken. Eine Mischung aus höherer Grundsumme und spürbarer Progression (350 %+) bringt Stabilität. Prüfen Sie zusätzlich Übergangsleistungen und Tagegelder im Tarif.
Die sinnvolle Reihenfolge beim Tarifbau
Beginnen Sie mit der Grundsumme. Sie sollte im Worst Case zumindest die wichtigsten Umbaumaßnahmen, Hilfsmittel, Einkommenslücken der ersten Jahre und ggf. Kreditraten abdecken. Erst danach wählen Sie die Progression, um die schweren Fälle kalkulierbar zu machen. Viele sparen genau umgekehrt – und stehen bei 60–80 % Invalidität mit zu wenig Kapital da.
Faustzahlen zur Orientierung
Als grobe Richtschnur orientieren sich viele Haushalte an 2–3 Jahresnettoeinkommen als Grundsumme. Wer Immobilien besitzt oder Kinder hat, addiert typisierte Umbaukosten. Anschließend wird die Progression so gewählt, dass bei 70–100 % Invalidität ein realistischer Kapitalbedarf gedeckt ist.
Rechenbeispiele im Detail – so kommen Sie auf Ihre Summe
Angenommen, Sie wählen 150.000 € Grundsumme und 350 % Progression. Bei 60 % Invalidität können – je nach Tarif – um 180.000–200.000 € zusammenkommen. Reicht das für rollstuhlgerechten Umbau, Autoanpassung und Einkommenspuffer? Listen Sie konkrete Posten auf und drehen Sie an Grundsumme und Progression, bis es passt.
Beispiel 1: 30 % Invalidität, 100.000 € Grundsumme, 225 % Progression
Linear wären es 30.000 €. Mit Progression steigt die Auszahlung in unserem Schema auf ca. 35.000 €. Für kleinere Anpassungen, Hilfsmittel und Reha ist das oft ausreichend. Eine übermäßig hohe Progression bringt hier nur wenig Mehrwert – die Grundsumme prägt das Ergebnis stärker.
Beispiel 2: 70 % Invalidität, 100.000 € Grundsumme, 350 % Progression
Linear: 70.000 €. Progressiv: rund 185.000 €. Diese Differenz ist tarifentscheidend. Typische Kostenblöcke wie Umbauten, Pflege‑ und Assistenzleistungen oder Einkommenspuffer werden jetzt realistisch finanzierbar. Ohne Progression wäre die Lücke erheblich.
Beispiel 3: 100 % Invalidität, 100.000 € Grundsumme, 500 % Progression
Linear: 100.000 €. Progressiv: 500.000 €. In absoluten Extremfällen liefert eine hohe Progression den nötigen Kapitalstock, ohne dass die Grundsumme unbezahlbar wird. Sie ist jedoch kein Ersatz für eine fehlende Grundsumme – sie multipliziert lediglich ab hohen Graden.
Kostenfallen erkennen und vermeiden
Viele Tarife locken mit hohen Progressionszahlen, während die Grundsumme niedrig bleibt. Das klingt eindrucksvoll, spart aber an der falschen Stelle. Ebenso sind sehr niedrige Grundsummen mit extrem hoher Progression oft nicht belastbar, wenn die Invalidität „nur“ bei 40–60 % liegt. Prüfen Sie außerdem die Gliedertaxe: Kleine prozentuale Unterschiede können bei der Auszahlung große Euro‑Effekte haben.
Mitwirkungsanteil und Vorschäden
Vorerkrankungen können den Invaliditätsgrad und die Leistung prozentual kürzen. Achten Sie auf faire Regelungen und medizinische Nachweise. Tipp: Dokumentieren Sie Vorerkrankungen sauber und gewähren Sie nur nötige Auskünfte – alles andere kann sich nachteilig auswirken.
Serviceleistungen und Zusatzbausteine – sinnvoll oder teuer?
Übergangsleistungen, Genesungsgeld, Reha‑Management, kosmetische Operationen, Sofortleistungen bei schweren Verletzungen: Das alles kann wertvoll sein, kostet aber Beiträge. Priorisieren Sie Bausteine, die echte Kostenblöcke abfedern. Reha‑Management und Hilfsmittel‑Budgets haben oft hohen Praxisnutzen, während kleine Pauschalen zwar nett, aber nicht tarifprägend sind.
Checkliste: So wählen Sie Progression und Grundsumme passend
- Grundsumme zuerst festlegen – am Bedarf, nicht am Marketingwert ausrichten.
- Progression als „Worst‑Case‑Booster“ nutzen: bei 60–100 % muss der Kapitalbedarf gedeckt sein.
- Gliedertaxe und Mitwirkungsregelungen prüfen – sie entscheiden über Prozentpunkte.
- Nebenkosten bedenken: Umbauten, Pflege, Mobilität, Einkommenspuffer, Therapien.
- Beiträge vergleichen und auf Bedingungsqualität achten – nicht nur auf Hochglanzzahlen.
Typische Irrtümer – und was Sie stattdessen tun sollten
Ein verbreiteter Irrtum ist, das Thema ausschließlich über den Monatsbeitrag zu entscheiden. Günstig ist, was im Schadenfall wirklich trägt. Zweiter Irrtum: Eine sehr hohe Progression kompensiert alles. Tut sie nicht – sie wirkt vor allem bei hohen Invaliditätsgraden. Dritter Irrtum: „Alle Gliedertaxen sind gleich.“ Schon 5–10 Prozentpunkte Unterschied beim betroffenen Körperteil können über fünfstellige Beträge entscheiden.
Wie Sie seriös vergleichen
Arbeiten Sie mit zwei bis drei realistischen Szenarien (30 %, 60 %, 90–100 %) und lassen Sie sich die Auszahlungsbeträge je Tarif zeigen. So erkennen Sie die Kurven. Prüfen Sie, ob Neubemessungen, Fristen und Anzeigepflichten für Sie handhabbar sind.
Wechsel oder Neuabschluss: Timing kann Geld sparen
Anbieter modernisieren Tarife. Wer noch eine Altpolice mit schwacher Progression oder ungünstiger Gliedertaxe hat, kann mit einem Neuabschluss sprunghaft bessere Leistungen erhalten. Achten Sie auf Wartezeiten, Gesundheitsfragen und mögliche Risikozuschläge. Ein sauberer Vergleich spart auf Jahre Beiträge oder verbessert Leistungen ohne Mehrbeitrag.
Familien‑ und Berufsbesonderheiten
Handwerker, Musiker, Chirurgen: Hand‑ und Auge‑Taxen sind kritisch. Eltern sollten auf Sofortleistungen, Reha‑Management und Assistance‑Leistungen achten. Studierende und Azubis benötigen oft keinen XXL‑Tarif, aber eine solide Grundsumme und vernünftige Progression, die die größten Risiken abdeckt.
Beitrag optimieren: drei Hebel mit großer Wirkung
- Selbstbeteiligungen sind unüblich, aber Bausteine und Assistance‑Pakete lassen sich schlank halten.
- Zahlungsweise prüfen: Jährliche Zahlung ist meistens günstiger als monatlich.
- Kombirabatte und Bündelungen mit anderen Sparten können Beiträge senken – nur abschließen, wenn die Bedingungen stimmen.
Anspruch im Leistungsfall durchsetzen
Melden Sie Unfälle fristgerecht und vollständig. Dokumentieren Sie Verletzungen und Therapien. Bei Streit über den Invaliditätsgrad hilft ein eigenes Gutachten. Nutzen Sie die Neubemessungsfristen, wenn sich Ihr Zustand verbessert oder verschlechtert – das kann die Leistung erhöhen oder die Rückforderung vermeiden.
Rolle des Gutachtens
Das Gutachten ist der Hebel, über den Prozentpunkte und damit fünfstellige Summen entschieden werden. Bringen Sie Befunde strukturiert bei, dokumentieren Sie Funktionsverluste im Alltag. Bei komplexen Fällen empfehlen sich spezialisierte Mediziner.
Fazit: Die richtige Mischung spart Beiträge und schließt Lücken
Wer zuerst die Grundsumme realistisch wählt und dann die Progression intelligent ergänzt, kauft keinen Show‑Tarif, sondern eine funktionierende Absicherung. Für die meisten Haushalte liefert eine solide Grundsumme mit 350 % Progression ein gutes Preis‑/Leistungsverhältnis. Wer besondere Risiken hat, sollte 500 % in Betracht ziehen. Sparen heißt hier nicht, den niedrigsten Beitrag zu wählen, sondern unnötige Bausteine zu streichen und die großen Risiken sauber abzudecken.
Mini‑Leitfaden zur schnellen Tarif‑Kalibrierung
- Bedarf in Euro grob schätzen (Umbau, Mobilität, Pflege, Puffer).
- Grundsumme so wählen, dass 40–60 % Invalidität tragfähig ist.
- Progression so wählen, dass 70–100 % die großen Kostenblöcke deckt.
- Bedingungsqualität (Gliedertaxe, Mitwirkung, Fristen) vor Broschüren‑Zahlen prüfen.
- Nach 2–3 Jahren prüfen, ob neue Tarife bessere Kurven bieten.
